Ein ungemütlicher Abend

 „Ich bin so hungrig, dass ich eine ganze Kuh verdrücken könnte“, stöhnte Charly, als sie nach ihrer Erkundungstour die Höhle verließen.

Allerdings war es auch schon längst Zeit fürs Abendessen. Bei tiefblauem Himmel ohne jedes Wölkchen waren sie zum Devils Hole aufgebrochen. Jetzt bäumte sich ein riesiger Gewitterturm bedrohlich am Himmel auf. War es vorher schon sehr heiß gewesen, war es jetzt extrem schwül.

„Das könnte sich zu einem äußerst ungemütlichen Unwetter entwickeln“, beurteilte Joe die Lage.

Als sie das Tipi erreichten, kündigte bereits heftiger werdender Wind und ein sich ständig verstärkendes, unheilvolles Donnergrollen das heraufziehende Gewitter an. Der dunkelgrau-gelblich verfärbte Himmel erhellte sich zeitweise durch noch weit entfernte Blitze in den Wolken.

„Das Zelt der Mädchen muss runter, es fliegt sonst weg. Fasst alle an und räumt es schnell aus! Tom und Charly, ihr baut es danach ab und legt alles ins Tipi! Die Mädchen holen in der Zwischenzeit Lebensmittel fürs Abendessen aus den Metallkisten. Sachen, die man kalt essen kann. Ich schaufle schnell einen Graben rund ums Tipi, damit kein Wasser rein läuft.“

Joes knappe Anweisungen klangen wie die eines Häuptlings, der seine Krieger befehligt. Allerdings fühlte jeder, dass Joe genau wusste, was zu tun war. Und dass er es tat, weil er sich für sie verantwortlich fühlte und nicht, um sich aufzuspielen.

Lobo rannte aufgeregt zwischen den Kindern hin und her, da er ihre Hektik und Nervosität aufnahm. Der Wind peitschte die Büsche in alle Richtungen. Dumpfes Donnergrollen mit knatterndem Unterton, der die Elektrizität in der Luft spüren ließ, kam immer näher und die ersten Blitze zuckten am Himmel.

Joe rannte mit Tom den Pfad hinauf zu den Sätteln, um sie im Tipi in Sicherheit zu bringen. Den Mädchen hatte er aufgetragen, Holz für den nächsten Morgen ins Trockene zu bringen. Charly rollte derweil fünf Sitzbaumstämme ins Tipi.

Dann brach der Gewittersturm los. Der Regen prasselte lautstark auf ihre Behausung. Der Wind heulte beängstigend und ließ die Tipi-Wände schwingen.

Als Tom und Joe die letzten beiden Sättel brachten, waren sie vollkommen durchnässt. Nur mit Mühe hatten sie sich den Sturmböen trotzend mit den schweren Sätteln auf dem Arm gegen den peitschenden Regen zum Tipi hinunterkämpfen können. Charly zog hinter Joe schnell die Eingangsklappe zu und befestigte sie. Die Lüftungsklappe oben an der Spitze des Tipis hatte Joe schon vorher geschlossen, damit es nicht reinregnete. Das bedeutete allerdings, wie von Joe vorhergesehen, auch ein kaltes Abendessen, da sie kein Feuer machen konnten.

Joe schüttelte sich das Regenwasser wie ein nasser Hund aus den Haaren und zündete die Petroleumlampe an. Obwohl noch früh am Abend, war es draußen fast stockdunkel. Das Gewitter musste jetzt direkt über ihnen sein, denn die Blitze erhellten den Himmel in Sekundenabständen. Unmittelbar gefolgt von krachenden Donnerschlägen, die vom Echo der Canyon-Wände vervielfacht wurden.

Maren starrte angstvoll auf die von Sturmböen bebenden Tipi-Wände. Sie war ganz nahe an Tom herangerutscht, der verständnisvoll den Arm um seine Schwester gelegt hatte. Maren hatte immer fürchterliche Angst vor Gewittern gehabt, seit ihre Mutter ihnen erzählt hatte, wie die Stallungen auf dem Gut ihrer Eltern in England durch Blitzeinschlag bis auf die Grundmauern niedergebrannt waren. Dabei war ihr siebzehnjährige Bruder ums Leben gekommen, als er die Pferde retten wollte.

„Keine Angst, meine Vorfahren haben schließlich ganzjährig in solchen Tipis gelebt und Hunderte von Unwettern darin überstanden“, versuchte Joe seine Freunde, die sehr schweigsam geworden waren, aufzumuntern.

„Was ist mit den Pferden?“, fragte Ricky, die halb aufgerichtet auf einer der Bettstätten lag, besorgt.

„Die haben Schutz in Senken nahe an den Felswänden gesucht“, beruhigte Joe sie. „Die waren schon nicht mehr oben, als wir die Sättel geholt haben.“

Sie mussten inzwischen schreien, um sich zu verständigen, denn das Prasseln des Regens übertönte alles. Draußen durchfurchte das Wasser in reißenden kleinen Strömen das Erdreich. Der eilig um das Tipi herum geschaufelte Graben ließ das Wasser von den Tipi-Wänden zwar draußen abfließen, konnte jedoch die Wassermassen, die inzwischen von der Höhe herunter in Richtung Senke strömten, nicht mehr ganz aufnehmen. Immer großflächiger werdende Rinnsale breiteten sich im Inneren des Tipis auf dem Boden aus. Glücklicherweise hatten sie alle Sachen vorsorglich auf die Bettgestelle gelegt, so wie Joe es angeordnet hatte. Dort saßen sie jetzt mit hochgezogenen Beinen. Auch Lobo hatte sich neben Joe auf dessen Lager gerettet.

Dann ließ ein Donnerschlag, so laut, dass sie danach fast taub waren, die Erde erbeben. Auch das Tipi schien sich zu bewegen und wurde gleichzeitig taghell erleuchtet. Die Schatten der sturmgepeitschten Bäume an der Senke ließen die Tipi-Wände wirken, als stünde die Welt um sie herum in Flammen. Maren hatte laut aufgeschrien und klammerte sich an ihrem Bruder fest. Auch die anderen sahen etwas blass aus.

Nur Joe bemerkte gelassen: „Es hat irgendwo auf der Höhe eingeschlagen. Keine Angst, bei dem Regen gibt es wenigstens keinen Buschbrand.“

Sturm, Blitz und Donner entfernten sich langsam. Das Tipi hatte den Naturgewalten zwar standgehalten und keinen Wassertropfen durchgelassen, aber der Fußboden war reichlich durchweicht und matschig. Endlich hörte es auch auf zu regnen, sodass sie sich nach draußen wagten. Fasziniert blickte Tom nach oben. Die untergehende Sonne lugte unter der fast schnurgeraden abziehenden Wetterfront hindurch. Dahinter strahlendes Blau. So einen geteilten Himmel hatte er bisher noch nicht gesehen.

Während des Unwetters hatte niemand Lust auf das Abendessen verspürt, doch jetzt verkündete Charly: „Ich habe riesigen Hunger, lasst uns endlich etwas essen, bevor ich sterbe.“

„Ich verhungere auch fast. Wir holen die Sachen aus dem Tipi und essen hier draußen“, schlug Ricky vor.

Es war immer noch sehr warm, allerdings nicht mehr drückend schwül. Gierig machten sie sich über Cracker, Thunfisch aus der Dose und eingemachte Pfirsiche von Charlys Grandma her.

„Die Mädchen müssen heute Nacht bei uns im Tipi schlafen. Ich baue hier draußen in diesem Matsch bestimmt kein Zelt mehr auf“, erklärte Tom.

„Oh ja“, freute sich Maren. „Das Gewitter könnte ja zurückkommen.“

„Wir haben acht Bettgestelle. Das wird mit Gepäck und Sattelzeug zwar knapp, wird aber reichen“, nickte Joe zustimmend.

„Ich hab eine Idee“, strahlte Charly. „Wollen wir nicht morgen in Devils Hole übernachten? In dieser kleinen Höhle, die wir als letzte gefunden haben. Wenn dann noch mal ein Unwetter kommt, wird nichts nass. Was meint ihr?“

„Oh ja, das ist eine tolle Idee! Das gefällt mir, ob es nun regnet oder nicht! Von da aus könnten wir problemlos die Höhlen weiter erkunden“, stimmte Ricky begeistert zu.

Joe war einverstanden und Maren glücklich, denn dort war man gewiss vor weiteren Gewittern sicher.